EDITORIAL - DAS DEUTSCH-FRANZÖSISCHE SPANNUNGSVERHÄLTNIS
Die in den letzten Wochen in der französischen Presse immer wieder ausführlich dargelegten Spannungen in den deutsch-französischen Beziehungen veranlassen zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen und Erläuterungen. Dabei gibt der vom langjährigen Berater des ehemaligen Staatspräsidenten François Mittérand, Jacques Attali, am 24. Oktober 2022 veröffentlichte Artikel, der sich sogar zu dem äußerst provokativen und besorgniserregenden Titel „Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wird wieder möglich“ hinreißen ließ, noch einen ganz besonderen Grund zur Darlegung der derzeitigen Situation.
Handelt es sich wirklich um tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Regierungen, die die öffentliche Meinung insbesondere in Frankreich bewegen? Oder sind es nicht eher publizistische Schlagzeilen, die immer wieder gerne eine alte, bestehende Thematik hochspielen?
Aber es muss schon etwas Besonderes vorgefallen sein, das den französischen Staatspräsidenten dazu bewog, die Reißleine zu ziehen und kurzfristig die Tagung des deutsch-französischen Ministerrates, der für Ende Oktober geplant war, abzusagen.
Um was handelt es sich also? Einmal geht es um sehr spezifische Militärobjekte, die schon länger diskutiert werden, wie ein neues europäisches Kampfflugzeug, ein Gemeinschaftsvorhaben zwischen Dassault und Airbus, das den französischen Rafale bzw. den amerikanischen Starfighter ablösen soll, und bei dem es unter den beteiligten Industrieunternehmen immer noch nicht zu einer equitablen Einigung kam sowie um den von Deutschland initiierten europäischen Luftabwehrschirm (European Shield Initiative), für den 14 weitere Partnerstaaten, aber nicht Frankreich, eine Absichtserklärung unterschrieben. Frankreich verfügt bereits über eine eigene Raketenabwehr und bot bisher an, diese mittelfristig auf interessierte Länder auszudehnen. Das von Kanzler Scholz forcierte Projekt stieß bei Präsident Macron
auf strikte Ablehnung.
Ohne in sehr spezifische technische Einzelheiten einsteigen zu wollen, geht es bei dem oben dargelegten Spaltungskatalog um sehr schwierige Sachfragen, die zunächst nur von Professionellen zu beurteilen sind. Des Weiteren handelt es sich aber auch um die Frage, wie dies zu erörtern bzw. wie der Partner über den laufenden Stand der Diskussion im anderen Land zu informieren und einzubeziehen ist.
Der Ukraine-Konflikt hat vieles verändert und den letzten deutschen Pazifisten wachgerüttelt. Der „ewige Frieden“ hat sich als unrealistischer Traum aufgelöst, und der nur von den USA finanzierte militärische Schutzschild gehört der Vergangenheit an. Die finanzielle deutsche Antwort hierauf war die Bildung eines Sondervermögens von 100 Mrd. €, um die dringendsten, sofortigen, bisher nicht in Angriff genommenen Militärausgaben zu bezahlen. Es ist nachvollziehbar, dass der französische Nachbar, der engste Partner von Deutschland, ein berechtigtes Interesse an der Verwendung dieses Fonds hat. Darüber hinaus zwingt die neue Lage mehr denn je zu einer ernsthaften Diskussion über eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, wozu natürlich auch die hierfür erforderlichen Mittel und deren Gebrauch gehören.
Es könnte beim französischen Partner der Eindruck entstanden sein, dass sich durch die neuen geopolitischen Verschiebungen eine stärkere Annäherung Deutschlands an Amerika abzeichnet.
Eine andere Verunsicherung entstand bei der französischen Regierung durch das zahlenmäßig gigantische deutsche Energiehilfsprogramm von 200 Mrd. €, das erst relativ spät als „Doppelwumms“ von Bundeskanzler Scholz mit viel Pathos angekündigt wurde. Der französische Vorwurf, damit u.a. eine unberechtigte Wettbewerbsbevorteilung der deutschen Wirtschaft vorgenommen zu haben, ist völlig aus der Luft gegriffen und im Vergleich zu den in Frankreich ergriffenen Maßnahmen nicht haltbar. Frankreich hatte nämlich bereits viel früher, im Herbst 2021, einen „bouclier tarifaire„ (Preisdeckel) für den explodierenden Strom- und Gaspreis eingeführt. Hierfür wurden ursprünglich 45 Mrd. € budgetiert, die zwischenzeitlich um den gleichen Betrag aufgestockt wurden und nach den neuesten Meldungen mindestens 110 Mrd. € kosten werden. Bei der Würdigung der Abweichungen der beiden Maßnahmenkataloge sind die unterschiedlichen industriellen, aber auch bevölkerungsmäßigen Verhältnisse beider Länder zu berücksichtigen. Dies wurde auch vom derzeitigen deutschen Botschafter in Frankreich, Dr. Lucas, in seinem in der Tageszeitung Ouest France vom 19. November 2022 veröffentlichten Artikel anhand des unterschiedlichen Gasverbrauchs beider Länder (90,5 Mrd. m3) eindrucksvoll dokumentiert.
Warum musste es also zu den angeblich starken Misstönen, wie sie in der französischen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, im deutsch-französischen Verhältnis kommen?
Sicherlich nicht wegen unterschiedlicher Auffassungen zu bestimmten Inhalten, die bestanden schon davor und werden weiter immer wieder aufkommen. Zu groß sind die Gegensätzlichkeiten in der Ausübung der wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten in beiden Ländern. Sie haben aber während der letzten 60 Jahre – solange besteht ja mittlerweile der am 22. Januar 1963 im Elysée Palast zwischen De Gaulle und Adenauer abgeschlossene Freundschaftsvertrag – nicht daran gehindert, beide Länder so eng wie nie zuvor in den letzten Jahrhunderten zu verbinden und die treibende Kraft für ein vereinigtes Europa zu bilden.
Dies schließt aber auch nicht aus, dass aus unterschiedlichen Auffassungen, die nicht rechtzeitig und insbesondere nicht im Vorhinein durch Informationsaustausche erörtert bzw. durch Kompromisse beseitigt werden, unnötige Schräglagen entstehen können.
Die beiden Hauptverantwortlichen, Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz haben wieder zueinander gefunden und einen intensiven Austausch auf Ministerebene in Gang gesetzt. Die Achse Paris-Berlin ist wieder in Bewegung gesetzt worden. Sie ist aber kein Selbstläufer. Das deutsch französische Verhältnis bleibt ein zartes Pflänzchen, das ständiger Pflege von beiden Seiten bedarf. Ob es aber den Hinweis auf eine „Kriegsbedrohung“ erforderlich machte, ist zweifelhaft.
Wir wünschen Ihnen eine beschauliche Adventszeit und im Kreise Ihrer Familie frohe Weihnachten.
Ihre DiagnosticNews-Redaktion
Founder, Chartered Accountant, Statutory Auditor, Wirtschaftsprüfer
Mehr erfahren