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DIAGNOSTIC NEWS N°201

EDITORIAL : DIE FRANZÖSISCHE STAATSKRISE

Für ausländische – insbesondere aber für deutsche Beobachter – ist es nur schwer verständlich und kaum nachvollziehbar, was sich derzeitig in Frankreich abspielt.

Vor 2.000 Tagen, am 14. September 2017, wurde Jean Paul Delevoye von dem gerade frisch gewählten Staatspräsidenten Emmanuel Macron zum hohen Kommissar für die Ausarbeitung eines völlig neuen Rentensystems bestellt. Das schließlich übrig gebliebene Endprodukt wurde am Montag, den 20. März 2023, vor dem Parlament, aber ohne Abstimmung, unter Zuhilfenahme des Verfassungsartikels 49.3 verabschiedet.

Ein fast sechs Jahre dauernder Leidensweg mit vielen Unterbrechungen, aber insbesondere auch vielen Modifikationen an dem ursprünglich verfolgten Reformziel geht damit für das Gesetzesvorhaben, abgesehen von der noch ausstehenden Entscheidung des angerufenen obersten Verfassungsrates („Conseil constitutionnel“) zu Ende.

Damit ist aber keineswegs der von den Gewerkschaften von Anfang an mit äußerster Entschlossenheit und mehrheitlicher Unterstützung der Bevölkerung geführte Kampf, der für eine Verhinderung des noch nicht promulgierten Rentengesetzes steht, beendet. Die zunächst friedlich ausgetragenen Demonstrationen arteten in der Zwischenzeit mit massiven Hausbeschädigungen und der Inbrandsetzung der seit Wochen nicht abgeholten, sich an den Straßenrändern auftürmenden Müllbergen aus und schreckten auch nicht vor brutalen Gewaltangriffen auf die eingesetzten Polizisten zurück. Das Ganze wird durch massive, immer wieder neu ausgerufene Streiks bei allen öffentlichen Verkehrsbetrieben, bei der Energieversorgung und anderen Schlüsselversorgungseinheiten begleitet. Es ist der erklärte und bisher auch so umgesetzte Wille der geschlossen auftretenden Gewerkschaftsfront, Frankreich mit allen Mitteln in die Krise zu zwingen und den Präsidenten davon abzubringen, das verhasste Gesetz zu promulgieren.

Bereits in der Nationalversammlung fanden tumultartige Auseinandersetzungen und persönliche Beleidigungen bei den Diskussionen, um eine parlamentarische Mehrheit zu finden, statt. Nachdem die zunächst der Regierung von der bürgerlichen Rechtspartei LR zugesagte Unterstützung immer unsicherer geworden war, sah sich die Premierministerin Elisabeth Borne gezwungen, den als undemokratisch angesehen Artikel 49.3 „zur Rettung des Gesetzesvorhabens“ heranzuziehen. Diese Entscheidung wurde von den Gegnern der vorliegenden Rentenreform und damit der Mehrheit sowohl der gewählten Volksvertreter als auch der öffentlichen Meinung als eine eindeutige Missachtung des Volkswillens angesehen. Das Vorgehen bestärkte die Gegner zusätzlich in ihrem Ablehnungsverhalten und ihrer Forderung nach Rücknahme des Gesetzes.

Durch das zwei Tage später abgehaltene Fernsehinterview von Präsident Macron wurde keine Verbesserung der äußerst angespannten Stimmungslage erreicht. Im Gegenteil, neue Streiks und Demonstrationsbewegungen wurden angekündigt. Mit einem kurzfristigen Abklingen der Proteste bzw. einem Gesinnungswandlung ist damit nicht zu rechnen.

Aber wie konnte es überhaupt zu einer solchen Situation kommen?

Nachdem Präsident Macron bei der letzten Wahl keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichte, war es klar, dass das Kernstück seiner noch ausstehenden Reformvorhaben, nämlich das neue Rentengesetz, nicht einfach über die Bühne gehen würde. Die notwendige, absolute Mehrheit konnte nur durch eine Absprache mit der LR-Partei erreicht werden, die, wie bereits dargelegt, im letzten Moment scheiterte. Hier wurde viel Aufwand sowohl von der Zeit als auch durch die Erfüllung von zahllosen Änderungswünschen vergeudet.

Der Hauptgegner, die geschlossene Gewerkschaftsfront, deren strikte Ablehnung der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 64 von Anfang an bekannt war und die zur derzeitigen Stimmungslage maßgeblich beiträgt, wurde höchstwahrscheinlich unterschätzt oder vielleicht auch als unumstimmbar hingenommen und deshalb versäumt, einen konstruktiven Dialog aufzubauen. Die dadurch entstandene Einheitsfront, ein historischer Vorgang zwischen der radikalen CGT und der viel gemäßigteren CFDT, die von dem charismatischen Gewerkschaftsführer Laurent Berger geleitet wird, hatte fatale Folgen für die weitere Entwicklung der Protestbewegung.

Ein entscheidender Faktor für die als bisher gescheitert anzusehende Rentenreform dürfte jedoch gewesen sein, dass es nicht gelang, die Mehrheit der öffentlichen Meinung von der absoluten Notwendigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen. Nach Umfragen bestand ganz zu Beginn der Diskussionen (September 2022) eine generelle, mehrheitliche Einigung darüber, das bestehende Rentensystem ändern zu müssen, womit natürlich noch keine Zustimmung für die beabsichtigte Reform gegeben war. Trotzdem ist es unverständlich, wie es zu diesem radikalen Umschwung und den hasserfüllten Drohungen gegenüber der Exekutive sowie den ganz direkten verbalen Attacken gegenüber dem Staatspräsidenten kam.

Des Weiteren wurden von der Regierung hierzu elementarste Kommunikationsfehler begangen. So wurde der eigentliche Gesetzestext erst relativ spät im Detail diskutiert, die finanzielle Dringlichkeit des Vorhabens nicht überzeugend vorgetragen und damit ganz allgemein durch die vielen erfolgten Änderungen auch die Glaubwürdigkeit der Regierung in Frage gestellt. Am Ende ging es um mehr als nur die Rentenreform. Die Situation spitzte sich zu einer Totalkonfrontation zwischen Staat und Bürgern zu. Der Griff zum Art. 49.3, der von den Gegnern als ungerechtfertigte, undemokratische Maßnahme angesehen wird, belastete den im Augenblick für beide Seiten als unlösbar erscheinenden Zustand noch zusätzlich.

Die alles entscheidende Frage ist nunmehr, wie der stark geschwächte und persönlich auch äußerst angefeindete Staatspräsident schnell einen Ausweg findet, um dieser unhaltbar gewordenen Situation ein Ende zu bereiten und insbesondere ein Abgleiten in das völlige Chaos zu vermeiden.

Als nächstes wird sich dann die Frage aufdrängen, wie sich der Präsident einrichten und organisieren muss, um in den nächsten vier Jahren (!) die von ihm angekündigte und dringend notwendige Transformation des Landes umsetzen zu können. Die französische Verfassung sieht zwar sehr weitreichende Befugnisse des Präsidenten vor, dies auch ohne das Parlament durchführen zu können, aber ein permanentes Regieren gegen den Volkswillen ist nicht praktizierbar. Und der Weg zu Neuwahlen wäre – zumindest in der derzeitig aufgeheizten Stimmung – sicherlich keine optimale Lösung, um eine regierungsfähigere Mehrheit zu finden.

Die nächsten Wochen werden sich nicht einfacher gestalten. Die Bereitschaft zu einem intensiven, offenen Dialog zwischen den Kontrahenten wird dabei eine große Rolle spielen.

Wir werden Sie weiter unterrichten und wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Ihre DiagnosticNews-Redaktion

 

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